biographie

Cecilia Vicuña

Laudatio auf Cecilia Vicuña, Roswitha Haftmann Preisträgerin 2025

Dr. Yilmaz Dziewior, Museum Ludwig, Köln

Liebes Publikum,

heute Abend ehren wir eine ganz besondere Künstlerin, deren Karriere weit zurückreicht und die dennoch erst in den letzten sechs, sieben Jahren die internationale Aufmerksamkeit erhalten hat, die ihr Werk verdient. Seit Mitte der 1960er Jahre arbeitet sie an der Schnittstelle von Politik, Spiritualität, Sexualität, Ökologie, bildender Kunst und Poesie. Sie ist Bildhauerin, Malerin, Installations- und Performancekünstlerin, Dichterin, Filmemacherin und Aktivistin.

Warum hat es so lange gedauert, bis Cecilia Vicuña im Rampenlicht der internationalen Kunstwelt stand?

Cecilia Vicuña wurde 1948 in Santiago de Chile geboren. Dort schloss sie 1971 ihren Master of Fine Arts ab und studierte anschließend von 1972 bis 1973 an der Slade School of Fine Art in London. Ein kurzer Blick auf die Geschichte Chiles erklärt, warum sie 1973 nicht in ihr Heimatland zurückkehrte, sondern zunächst in London, später in Bogotá und ab 1980 in New York im Exil lebte. Am 11. September 1973 putschte das chilenische Militär unter General Augusto Pinochet, unterstützt von den USA, gegen die demokratisch gewählte Regierung des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Eine brutale Militärdiktatur folgte, die bis 1990 andauerte und bis heute nur unzureichend aufgearbeitet wurde.

Bis heute nutzt Cecilia Vicuña ein Atelier in New York, verbringt aber auch immer wieder längere Zeit in Chile.

Es bleibt also die Frage: Warum wurde ihre Kunst erst spät breitenwirksam entdeckt?

Aus meiner Sicht hat - neben der Außenseiterposition als Frau in einem lange von Männern dominierten Kunstfeld und als Exilkünstlerin - vor allem die Vielgestaltigkeit ihres Schaffens zu dieser späten Anerkennung beigetragen. Lange Zeit erschien ihr sensibles und hochpolitisches Werk vielen in der Kunstwelt zu komplex und vielschichtig. So war sie nicht selten als Dichterin bekannter als als bildende Künstlerin. Über fünfundzwanzig Publikationen hat sie veröffentlicht, und in ihren Ausstellungskatalogen finden sich häufig eigene Texte und Gedichte.

Der internationale Durchbruch kam 2017 mit ihrer Teilnahme an der documenta 14 in Kassel und Athen, wo ihre Werke prominent gezeigt wurden. Dort begegnete ich zum ersten Mal einer ihrer sogenannten Quipu-Arbeiten. Im Nationalmuseum für Zeitgenössische Kunst in Athen stand ich plötzlich vor einer fast sechs Meter hohen Installation aus gefärbter Wolle - ein tief beeindruckender Moment. Die inhaltlichen Referenzen wie auch die enorme Sinnlichkeit der Arbeit trugen sicherlich dazu bei, dass sie ein breiteres Publikum erreichte. Die Installation hatte den Titel Quipu Womb (The Story of the Red Thread, Athens) (2017).

Zwei Jahre später, 2019, zeigte das Kunstinstitut Melly in Rotterdam die erste Überblicksausstellung ihres Werks in Europa - da war Vicuña bereits 71 Jahre alt. Spätestens seit der Biennale von Venedig 2022, auf der sie den Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk erhielt, ist ihr Name in der Kunstwelt weltweit präsent. Im selben Jahr fand ihre umfrangreiche große Ausstellung im Guggenheim Museum in New York statt.

2023 und 2024 folgte eine große Retrospektive, die in Santiago de Chile begann, nach Buenos Aires reiste und zuletzt in São Paulo zu sehen war. Derzeit läuft noch bis zum 5. Juli 2026 ihre Einzelausstellung im Irish Museum of Modern Art in Dublin, und weitere Ausstellungen sind bereits geplant.

Zu den Quipu-Arbeiten

Die monumentalen Ausmaße von Quipu Womb erzeugten ein Gefühl des Eintauchens - ein Sich-Verlieren in einer weichen, zugleich kraftvollen Skulptur. Die riesigen Stränge unbehandelter Wolle ließ die Künstlerin in einem leuchtenden Purpurrot färben. Der Co-Kurator der documenta, Dieter Roelstraete, beschreibt das Werk als eine Hommage an eine synkretistische religiöse Tradition, die Muttergottheiten der Anden mit den maritimen Mythologien des antiken Griechenlands verbindet.

Der Titel Quipu verweist auf ein historisches Aufzeichnungsinstrument aus geknoteten Schnüren, das bereits vor 5,000 Jahren in den Anden genutzt wurde - sowohl zur Verwaltung von Beständen als auch zur Übermittlung von Nachrichten. In einigen entlegenen Regionen wurde es noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts verwendet.

Cecilia Vicuña beschreibt ihre Quipus als Übersetzungen der kosmischen, körperlichen und spirituellen Bedeutungen, die indigene Völker den Quipus zuschrieben. Ihre Worte:

"Ich übersetze die Geschichte der Quipu, die noch nicht anerkannt ist. Ich übersetze sie mit meinem Körper und beziehe Menschen ein, um kollektive Quipus, rituelle Quipus, zu schaffen. Ich tue dies in Landschaften, in Museen, auf der Straße, überall, wo ich kann. Ich sehe sie als Metapher für Kollektivität, für Einheit, für das Gespür für die Umgebung. Es ist eine Kampagne, die die menschliche Beziehung zum Land verteidigt, denn wenn wir keine andere Beziehung zum Land aufbauen, werden wir mit Sicherheit verschwinden. Das Land wird uns nicht mehr ernähren, weil wir es zerstören. Diese einst verspotteten Taten haben nun wieder Bedeutung für die Menschen. Wie konnte das passieren? Ich weiß es nicht. Jeder weiß, dass wir als Spezies bedroht sind."

Precario

Parallel zu den Quipu-Arbeiten entwickelte Vicuña seit Mitte der 1960er Jahre ihre Precario-Serie: fragile Gebilde aus Federn, Steinen, Plastik, Holz, Kabeln, Muscheln und Stoff - poetische Fragmente, die sie in Landschaften, im urbanen Raum oder in Museen realisiert. Diese Installationen wirken wie architektonische Gedichte, die mit minimalen Gesten große Räume füllen.

Ich erinnere mich besonders an ihren Beitrag zur Venedig-Biennale 2022: eine große Precario-Arbeit kombiniert mit Gemälden. Viele der verwendeten Materialien sammelte sie in der Lagune von Venedig - die Schönheit des Materials und Kritik an Umweltzerstörung lagen hierbei eng beieinander. Die Arbeiten erinnern sowohl an präkolumbianische Architektur als auch an archäologische Funde, zugleich aber an die Wegwerfästhetik des Kapitalismus.

Auch in ihrer jüngsten Precario-Arbeit Ciudad Geométrica (Geometrische Stadt) vom Sommer 2025 bei Xavier Hufkens in Brüssel sind Referenzen auf reale und utopische Architekturen klar erkennbar.

La Ruca Abstracta (o Los ojos de Allende) (1974)

Eine besondere frühe Arbeit ist die Installation La Ruca Abstracta, entstanden für das Arts Festival for Democracy in Chile am Royal College of Art. Gemeinsam mit John Dugger, David Medalla und Guy Brett organisierte Vicuña dieses Festival, um politisches Bewusstsein zu schaffen und Unterstützung für Demonstrierende in Chile zu sammeln.

Die Installation - ein provisorischer Unterschlupf aus Bambus, Wolle und bemalten Leinwänden - war begehbar. Ein Gemälde Salvador Allendes diente als Fenster: durch seine Augen konnte man vom Inneren der Hütte nach außen blicken. Vicuña betont selbst, dass diese Arbeit aus ihren frühen Experimenten mit kleinen Strandhütten hervorgegangen sei - architektonische Miniaturen zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Traum und Widerstand.

Palabrarmas

Vicuñas Verbindung von Politik, bildender Kunst und Poesie zeigt sich besonders in ihren Palabrarmas-Arbeiten, entstanden in den 1970er Jahren in London und Bogotá. Diese "Wortwaffen" spielen mit Sprache, Bildern und Bedeutungsverschiebungen. Obwohl sie zeitgleich mit Konzeptkunst entstanden, entziehen sie sich deren nüchterner Ästhetik und öffnen einen poetischen Raum, in dem Wort und Bild miteinander verschmelzen. Der Titel der Serie lässt sich nicht nur mit "Wortwaffen" ("palabra armas") übersetzen. Durch ihre Illustrationen verwandeln sich die Wörter und erzeugen mehrere Bedeutungen: palabra ("Wortwerk") oder palabrir ("Wortoffen").

Dennoch fanden diese Arbeiten lange weder in der Kunstwelt noch in der Literatur große Beachtung - vielleicht gerade, weil sie die Grenze zwischen beiden Feldern sichtbar machen. Doch genau hier liegt die besondere Kraft von Vicuñas Werk. Denn oft beginnen die Arbeiten von Cecilia Vicuña als Gedicht und entfalten sich dann in verschiedene Formen, wie ortsspezifischen Installationen, Performances, Ritualen, Liedern oder Filmen. Dabei beschäftigt sie sich schon immer mit indigenem Wissen, auch als Gegennarrative, die aus dem Informationsaustausch zwischen Körper und Erde, Pflanzen und Tieren beruhen.

Malerei

Auch in ihren Ölbildern verbinden sich Politik, Natur, Kolonialismuskritik und feministische Themen. Neben historischen Figuren wie Marx, Lenin, Allende und Fidel Castro treten hybride Wesen zwischen Mensch und Tier auf. Die Bilder zeichnen sich durch eine teils surrealistische, teils indigene Formensprache aus.

Obwohl Vicuña schon als Teenager malte, hörte sie nach dem Militärputsch 1973 damit auf, da sie "keinen Platz in der Welt" für diese Bilder sah. Viele waren verloren oder vergessen - bis 2013 Dawn Adès einige in London ausstellte. Das große Interesse ermutigte sie, wieder zu malen. Mitunter kopiert sie heute ihre frühen, verlorengegangenen Bilder anhand von überlieferten Fotografien oder rein aus der Erinnerung.

Film

Eine meiner Lieblingsarbeiten ist ihr 23-minütiger Film What Is Poetry to You? (1980). Auf den Straßen von Bogotá befragt sie Menschen - Künstlerinnen, Dichterinnen, Sexarbeiterinnen, Kinder, einen Polizisten, einen Wissenschaftler - nach ihrer persönlichen Bedeutung von Poesie. Die Antworten sind überraschend; einige humorvoll, andere sehr persönlich und aus manchen spricht die spezielle Lebenserfahrung der befragten. Der Film zeigt eindrücklich, dass Kultur für Vicuña nie ein elitäres Projekt war, sondern stets etwas zutiefst Menschliches und Emanzipatorisches.

Begegnung mit der Künstlerin

Bei der Vorbereitung dieser Laudatio fiel mir auf, wie häufig Texte über Cecilia Vicuña mit einer Schilderung persönlicher Begegnungen beginnen. Zunächst irritierte mich das - schließlich haben wir spätestens seit dem Poststrukturalismus gelernt, Werk und Biografie zu trennen. Doch bei Vicuña scheint diese Trennung schwer möglich. Ihre Persönlichkeit, ihre spirituelle Präsenz und ihre Haltung zur Welt scheinen dafür zu stark in ihr Werk eingeflossen zu sein.

Auch ich war davon berührt, als ich sie vor drei Monaten zum ersten Mal traf - ihre leise, eindringliche Art, ihre zierliche, zugleich kraftvolle Erscheinung beeindruckten mich sehr. Alles bei ihr steht in einem tiefen Einklang mit der Natur, obwohl sie die meiste Zeit ihres Lebens in Großstädten lebte.

Liebes Publikum, überzeugen Sie sich gleich im Anschluss im Gespräch zwischen Elena Filipović und Cecilia Vicuña selbst von der Authentizit&ät, Wärme und Klugheit dieser außergewöhnlichen Künstlerin.

Congratulations again, dear Cecilia.