biographie




Dr. Philipp Kaiser

Laudatio auf Pierre Huyghe aus Anlass der Verleihung des Roswitha Haftmann-Preises 2013 am 16. Mai 2013 im Kunsthaus Zürich

Als Pierre Huyghe mit seinem Werk erstmals in den frühen 1990er Jahren in Erscheinung tritt, hat sich eine kritische Kunstpraxis formiert, die gerade aufgrund der angespannten Weltwirtschaftskrise an Aufwind gewann. Es könnte behauptet werden, dass gewisse Ausläufer der 1980er Jahre ihre Fühler in das neue Jahrzehnt gestreckt haben, indem die neue, kritisch politische Kunstpraxis sich mit den Bedingungen ihrer Ausstellbarkeit und den kontextuellen Zwängen der Kunst auseinandergesetzt hat. Erinnern wir uns zurück: 1993 hat Peter Weibels ‘Kontext Kunst’ Ausstellung für viel Aufsehen gesorgt, nahezu zeitgleich wurde die diskursprägende Zeitschrift ‘Texte zur Kunst’ aus der Taufe gehoben. Im selben Jahr fand die mittlerweile legendäre Whitney Biennale in New York statt, in der die Schlagwörter Identitätspolitik und Multikulturalismus die Runde machten. Dieser dezidiert politisierten Kunst der frühen 1990er Jahre, entgegnete eine Gruppe Künstler kurz darauf ein auf Partizipation beruhendes Modell, welches der Kritiker Nicolas Bourriaud als ‘Relational Aesthetics’ bezeichnete. Vor zwanzig Jahren tobten Grabenkämpfe um die Legitimität der jeweiligen Praxis und um die Frage, ob diese nun kritisch oder affirmativ sei. Bei allen Differenzen scheint es mir bemerkenswert zu sein, dass beide Gruppen ein spezifisches Interesse für künstlerische Kollaborationen hatten.
Es kann hier keineswegs darum gehen, das eine gegen das andere auszuspielen oder gar Pierre Huyghes Kunst der einen oder anderen Gruppe zuzuschlagen. Denn so pluralistisch die 1990er Jahre waren – hier war lediglich von der ersten Hälfte des Jahrzehnts die Rede – so vielfältig ist sein Werk. Gerade weil es so vielfältig war, wurde Huyghes Werk anfangs immer wieder mit anderen Etiketten versehen. Mal wurde er der ‘Relational Astetics’ zugeschlagen, dann wiederum wurde er als Videokünstler bezeichnet. Fest steht, dass die äusserst komplexe künstlerische Praxis von Pierre Huyghe in erster Linie auf Ideen basiert und in diesem Sinne konzeptuell ist. Das bedeutet, kein Medium ist spezifisch genug, um sich daran abzuarbeiten und anzudienen. Im Zentrum steht stets eine Idee.
In zwei seiner frühesten Arbeiten, in ‘Chantier permanent, 1993 (Permanente Baustelle) und in der Gründung der ‘Association des temps libérés’, 1995 (Vereinigung der befreiten Zeit) werden sowohl die Intentionen des Künstlers wie auch dessen Prämissen deutlich. Es kann gar behauptet werden, dass diese beiden Arbeiten Manifeste sind; Manifeste der Gegenwärtigkeit und der Impermanenz.

Doch der Reihe nach: 1993 bereiste Pierre Huyghe gemeinsam mit einem Fotografen den Mittelmeerraum bei Rom, um unfertige Wohnungsbauten, die die Bewohner während deren Freizeit im Eigenbau erstellt hatten, zu dokumentieren. Die bewohnten Hausskelette, die teils noch eingerüstet waren, werden kaum je fertig gestellt werden, denn, so Pierre Huyghe “In den Mittelmeerländern sind Politik, Ökonomie und Geographie starken Schwankungen unterworfen. Deshalb konnte sich das in der westlichen Welt übliche Modell der schlüsselfertigen Wohnung, des Hauses als abgeschlossene Sache, nicht durchsetzen1. Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass auf unfertige Häuser keine Steuern anfallen oder dass zahlreiche Häuser ohne Baubewilligung gebaut wurden, kann davon ausgegangen werden, dass der transitorische Zustand permanent ist. Ursprünglich hat Pierre Huyghe ein Buch dieser ‘unfertigen Architekturen’ geplant, doch schliesslich entstand ein bebilderter Essay mit einem zusätzlichen Beitrag des französischen Architekten Francois Roche. Das programmatische und manifesthafte an Huyghes Untersuchung der ‘unfertigen Architekturen’ ist das spezifische Interesse am Unvollendeten. Das Besondere dieser Wohnbauten, schreibt der Künstler, “liegt im Unterschied zwischen dem, was sie sind und dem, was sie werden können, zwischen der Gegenwart und den Möglichkeiten der Zukunft2. Dadurch negieren diese Bauten sowohl die lineare Zeitlichkeit wie auch die Idee der Permanenz. Sie sind Ruinen und nach Walter Benjamins Geschichtstheorie ebenso wie die Allegorie der Domäne des Willkürlichen zugeordnet. Beide – die Ruine wie die Allegorie – haben eine Affinität für das Fragmentarische und Unvollständige, so dass diese für Benjamin das allegorische Emblem schlechthin ist. Diese spricht hier jedoch nicht von Verlust und damit von der Vergegenwärtigung des Vergangenen, sondern von noch Kommendem. Pierre Huyghes utopisches Manifest einer ‘offenen Gegenwart’, seine ‘Archäologie des Unvollständigen’, mag uns Robert Smithsons Lichtbildvortrag ‘Hotel Palenque’ in Erinnerung rufen. 1969 besuchte der Künstler Robert Smithson gemeinsam mit seiner Frau Nancy Holt und seiner Galeristin Virginia Dwan die Maya-Tempel in Nord Yucatan, in Palenque. Die gloriose Vergangenheit ist nach Smithson erstickt und begraben unter den Ablagerungen des Zeitflusses. Im zerbröckelnden Hotel Palenque findet er die zeitgenössische Ruine, die er mit den Augen eines Geologen und Reisenden beschreibt. Er beschreibt Gschossböden, die weggespitzt wurden und an Piranesi erinnern und spricht von unfertigen Zimmern, dem unvollendeten Swimming Pool: „Das ist die Abbruchstelle.“ So Smithson“ Sie ist überaus beeindruckend. Da sehen Sie, wie die Stufen ins Nichts fallen, und man erkennt die unbewohnten alten Motel-Teile. Auch an dieser Stelle wird wieder deutlich, wie umsichtig die Leute hier nicht einfach alles auf einen Schlag abreissen, sondern mit Fingerspitzengefühl vorgehen, so dass das Laubwerk durch den geborstenen Beton wachsen kann und die Farben an der Wand in der Sonne allmählich ausbleichen können. So bekommt man ein eindringliches Gefühl von etwas, das sich zeitlich ausdehnt und zugleich zurückzieht, etwas, das nicht zur Erde gehört und doch zutiefst in ihr verwurzelt ist. Diese Ent-Architekturisierung durchdringt die gesamte Anlage. Und vergessen Sie nicht, dass das Gebäude keinen Mittelpunkt, keine Fluchtpunkte hat, nichts, woran man sich halten könnte, keine Gewissheiten“.3
Das lose Gewebe aus Vorstellung, Vermutung, Analyse und Erinnerung, mittels dessen Smithson die Hotelruine wiederauferstehen lässt, durchkreuzt unterschiedlichste Zeitebenen und lässt die Ruine hierdurch nicht nur in die Vergangenheit, sondern ebenso in die Zukunft wachsen.

Pierre Huyghes zweites Manifest nun, von dem zuvor kurz die Rede war, war die Gründung der ‚Association des temps libérés’ (Vereinigung der befreiten Zeit). Anlässlich einer Gruppenausstellung hat der Künstler 1995 die Registrierung im französischen Journal Office bekanntgegeben. Es ging ihm in erster Linie darum, einen Modus für eine neue Temporalität zu finden, die normative Zeitvorstellungen in Frage stellt. In diesem Modell der befreiten Zeit stehen sich nicht mehr Arbeits- versus Freizeit gegenüber. Stattdessen wird ein Modell eingefordert, in welchem sich eine glaziale, eine historische und eine Mikrogeschichte überlappen, die in diesem Sinne befreit sind, als dass sie sich alle in der Gegenwart begegnen. Es ist offensichtlich, dass die Gründung der Vereinigung der befreiten Zeit auf Huyghes Ästhetik des Unvollendeten basiert, wie sie anhand der unfertigen Häuser erstmals formuliert wurde. Darüberhinaus jedoch ist das zweite Manifest ein explizites Manifest der Zeitlichkeit, einer Zeitlichkeit, die in der Dauer ihre offene Gegenwart verortet. Dies bedeutet nun keinesfalls, dass Pierre Huyghe hier Ent-Geschichtlichung anstrebt, im Gegenteil zeigt er auf komplexe Art und Weise auf, wie sich Historizität gerade im Fluss der Zeit lokalisieren lässt. Seine Videoinstallationen - ich möchte hier zwei hervorheben ‚L’Ellipse’, 1998 und ‚The Third Memory’, 1999 – sind hierfür ein gutes Beispiel. In ‚L’Ellipse’ nistet sich der Künstler in Wim Wenders Film ‚Der amerikanische Freund’ buchstäblich ein. Wenn nun der Schauspieler Bruno Ganz auf der rechten Projektionsseite der Dreifachprojektion von einem Anrufer aufgefordert wird, diesen in einigen Minuten in einem Gebäude zu treffen, welches in der linken Projektionsseite zu sehen ist, wird hier ein übersichtliches Mininarrativ etabliert, welches Ursache und Wirkung miteinander in Beziehung setzt. Im Zentrum der Projektion hat Huyghe nun eine hypotethische Erzählung etabliert, die sich zwischen dem Schnitt hätte ereignen können. Er hat Bruno Ganz, um zwanzig Jahre gealtert, gebeten, zu seinem Treffen auf der anderen Seite der Brücke zu gehen. In ‚L’Ellipse’ besetzt der Künstler den stillen, unsichtbaren Schnitt zwischen zwei Szenen, empfängt die Figur auf der Schwelle zur Fiktion und begleitet sie auf ihrer Reise durch die Wirklichkeit. Die zwanzig Jahre, welche im Zentrum der Dreifachprojektion auf acht Minuten geschrumpft sind, in denen wir Ganz beim Überqueren der Brücke beobachten können, erscheinen äusserst träge und vermitteln den realen Lauf der Zeit. Das Kollabieren von Fiktion und Wirklichkeit, von filmischer und wirklicher Zeit, sowie die raumzeitliche Ausdehnung der Szene – indem der Schauspieler die Brücke überquert - als auch der Projektion – indem die mittlere Projektion den Film quasi als Naht zusammenhält, dekonstruieren nicht nur auf paradigmatische Art und Weise filmisches Erzählen, sondern schaffen zugleich auch einen hybriden Zeitkristall, dessen Vektoren in alle Richtungen zeigen.
The Third Memory’, 1999 ist vielleicht Pierre Huyghes komplexeste Filminstallation und geht mehr oder weniger direkt aus ‚L’Ellipse’ hervor. 1972 hat John Wojtowicz eine Chase Manhatten Bank in Brooklyn überfallen und hat es durch die mediale Übertragung und den kurz darauf folgenden Spielfilm von Sidney Lumet ‚Dog Day Afternoon’ (1975) mit Al Pacino in der Hauptrolle zu kultischer Berühmtheit geschafft. Das Filmplakat fasst den Lauf der Dinge zusammen: „The robbery should have taken 10 minutes. 4 hours later, the bank was like a circus sideshow. 8 hours later, it was the hottest thing on live TV. 12 hours later, it was history“. Als Wojtowicz die Bank überfallen hat, einige Angestellte zur Geisel nahm und mit diesen nach Stunden der Verhandlung in einem Bus zum JFK Airport entfloh und dort schliesslich verhaftet wurde, nahm alles vor laufenden Kameras sein bitteres Ende. Pierre Huyghe liess den mittlerweile ergrauten Bankräuber 28 Jahre später die Situation nochmals nacherzählen und präsentierte diese in einer Split-Screen Projektion. Die Verschmelzung unterschiedlichster Erzählperspektiven und –wahrnehmungen, lassen die Ereignisse kaleidoskopische und faktographisch zugleich erscheinen. Ist das ‚First Memory’ die nacherzählte Erfahrung der Geschehnisse durch Teilnehmer und Fernsehzuschauer, repräsentiert das ‚Second Memory’ Al Pacinos Gangsterfilm. Im ‚Third Memory’ rekonstruiert der tatsächliche Bankräuber seine Tat und mutiert hierdurch zum Schauspieler und Kommentator seiner selbst. Dem Bankräuber, welcher im Begriff ist sein eigenes Bild wiederzuerlangen, das durch den Spielfilm in Umlauf gebracht wurde, entschwindet die eigene Geschichte und Realität und Fiktion verschwimmen ins Ununterscheidbare. Die Montage der Bilder schafft dennoch eine Darstellung der Ereignisse, die vielleicht präziser ist als die Geschehnisse selbst, die ein Kritiker einst als eine situationistische Denunziation des Spektakels beschrieben hat.
Sowohl in ‚L’Ellipse’, als auch in ‚The Third Memory’ nistet sich der Künstler in bereits bestehendem Filmmaterial ein und nutzt dieses als mediale Ruine, um zeitliche und kausale Komplexitäten zu reflektieren. Es scheint, als ob Pierre Hyghes künstlerische Strategie auf Zwischenräume des medialen und individuellen Gedächtnisses fokussiert, welche mit Akribie ausgelotet werden.  

Es ist bezeichnend für die ungemeine Vielfalt von Pierre Huyghes Werk, dass ich nach ganzen sechs Seiten Laudatio eben erst das erste künstlerische Jahrzehnt abgedeckt habe. Vieles wäre hinzuzufügen, vieles noch zu erwähnen. Beispielsweise seine Antarktika Expedition im Jahre 2005. Gemeinsam mit sechs Künstlern segelte er in Richtung Südpol, um einen seltenen Albino-Pinguin ausfindig zu machen. Die nostalgisch romantisch anmutende Reise erinnert uns an die Suche nach der blauen Blume, eine Suche, mit welcher eine spezifische, kollektive Erfahrung einhergeht, die jeder teilnehmende Künstler schliesslich mit sich trägt. Die Reise ins Anderswo, ans Ende der Welt, hegt ein utopisches Versprechen in sich, ob es jemals eingelöst wird oder nicht, sei dahingestellt.
Doch lassen Sie mich zum Schluss noch einige Worte zu Pierre Huyghes jüngster Arbeit ‚Untilled’ anfügen, die er letzten Sommer anlässlich der Documenta 13 in der Karlsaue in Kassel realisiert hat und die sicherlich viele von Ihnen gesehen haben. Gewissermassen dem Barockgarten der Orangerie nachgelagert, türmten sich bei den Komposthügeln Asphalt- und Sandaufschüttungen, während eine Liegende mit Bienenkopf sowie ein weisser Windhund die surreale, künstliche Landschaft bewohnten. ‚Untilled’, was so viel wie nicht bestellt oder unkultiviert bedeutet, im Lautbild jedoch ‚Untitled’ evoziert und dadurch lediglich ein Zungenschlag vom Undefinierten entfernt liegt. Bestellt war der Garten jedoch mit ausgesuchten toxischen und bewusstseinserweiternden Pflanzen wie Fingerhut, Cannabis oder eine Roggenart, aus deren Pilzen wiederum LSD gewonnen werden kann. Der psychedelische Garten hat in seiner Abgeschlossenheit eine andere Welt hervorgebracht, die tagtäglich vom weissen Windhund mit dem pinkfarbenen Bein bewacht wurde und dadurch traumähnlich entrückt war. Die dystopische, Sci-Fi ähnliche Landschaft, welche Huyghe hier orchestrierte, ruft J.G. Ballards Kristallwelten in Erinnerung und ermöglicht zugleich, dass die dem künstlichen Garten inhärenten Substanzen unser Bewusstsein und unsere Wahrnehmung der Welt verändern.
Pierre Huyghes erzählerisches Vermögen, gepaart mit seinem konzeptuellen, analytischen Zugang, der den Dingen mit archäologischer Akribie auf den Grund geht, hat bislang wichtige Werke von grosser Poesie und von grossem Scharfsinn hervorgebracht. Mit welcher Konsequenz Huyghe durch sein eigenes Werk mäandriert und dieses immer wieder von neuem aufgreift und vorantreibt, ist meines Erachtens einzigartig und äusserst bemerkenswert für einen Künstler seiner Generation. In diesem Sinne möchte ich ihm von ganzem Herzen zum Roswitha-Haftmann Preis gratulieren.


1 Pierre Huyghe: Einige Anmerkungen, in: Ausst. Kat. Pierre Huyghe. The Trial, Kunstverein München, Kunsthalle Zürich et.al. München 1999, S. 22.
2 Ebd., S. 22.
3 Robert Smithson: Hotel Palenque, 1969-72, in: Parkett, Nr. 43, 1995, S. 126.