Hans-Joachim Müller
Kunstkritiker

Laudatio auf Vija Celmins aus Anlass der Verleihung des Roswitha Haftmann-Preises 2009

Vielleicht ist es ja so: Fotografieren ist eine Erfahrung im Raum. Malen eine Erfahrung in der Zeit. Wenn das Foto entwickelt oder geprintet ist, dann ist ein Stück Welt erschlossen. Wenn das Bild gemalt ist, dann ist Zeit vergangen. Oder müsste man sagen: Wenn das Bild gemalt ist, dann hat sich Zeit gesammelt, angesammelt, gestaut, dann steckt es voller Zeit?
Gerne, stelle sie sich vor, sagt Vija Celmins, dass in der Kunst die Zeit angehalten werde: «Wenn man lange an einem Werk arbeitet, scheint es sich der Zeit zu bemächtigten. Die Bilder, die mir gefallen (jene von Piero della Francesca zum Beispiel), haben etwas Bewegungsloses an sich, einen komprimierten Zeitraum, der dir die Augen öffnet. Wenn du viel Zeit in ein Werk hineinsteckst, geschieht etwas, was das Bild verlangsamt, es körperlicher macht, dich dranbleiben lässt.»
Langsame Bilder. Schöne Vorstellung, es gäbe einen Zeitfluss, der so bedächtig, also so bedacht wäre, dass er sich als Geschwindigkeit nicht mehr messen liesse. Schöne Vorstellung, Bilder stellten sich der Zeit in den Weg, hielten sie freundlich auf, und die Zeit liesse sich alles gefallen und hätte genug damit zu tun, sich in den Bildern auszubreiten und sie aufzufüllen, und die Bilder wären nichts anderes als Batterien voller Zeit, Zeitbevorratung inmitten aller Beschleunigung und mitten im Verschleiss des Lebens.
In einer wunderbaren Arbeit aus den späten siebziger Jahren hat Vija Celmins gleichsam Mass an der Zeit genommen – oder an der Zeitlosigkeit, was in Wahrheit doch dasselbe ist. Sie hat Steine aufgesammelt, hat von den Steinen eine Form gemacht, hat die Steine in Bronze nachgegossen und die Güsse mit Acryl so fein bemalt, dass man nicht sagen könnte, welches der Naturstein und welches der Kunststein ist. Elf Paare. Ein Titel: «To fix the image in memory». Das Bild im Gedächtnis verankern. Der Stein ist das Zeitbild schlechthin. In ihm ist soviel Zeit gestaut, dass er darüber zur hochverdichteten Masse geworden ist. Im Labor lässt sich das nicht so ohne weiteres nachmachen. Man kann einen Stein nicht wirklich substituieren. Man kann nur das Bild des Steins im Gedächtnis verankern. Das ist es, was die Künstlerin meint, wenn sie sagt, die Bilder, die ihr gefielen, hätten etwas Bewegungsloses an sich, einen komprimierten Zeitraum, der uns die Augen öffnen würde.
Man hat in den mancherlei klugen Texten, die über das Werk geschrieben worden sind, immer wieder den gleichsam philosophischen Zuschnitt dieser Bilder betont, hat sie mit gutem Erfolg auf ihre Theoriefestigkeit hin getestet und ist zum Schluss gekommen, dass es sich um nichts weniger als um «epistemologische Malerei» handeln müsse, um Malerei mithin, die mit erkenntniskritischer Tendenz dabei helfe, die materielle Welt neu zu konstruieren (Richard Rhodes). Und es klingt wie entschiedene Handlungsanleitung, während von den Bildern doch ganz andere Signale auszugehen scheinen: Signale einer eigentümlichen Lähmung, einer stillen, völlig undramatischen Angehaltenheit, Signale der elementaren Unzuständigkeit für die Bewegungsvorgänge, die man Leben nennt.
Auch fällt an manchen Textbeiträgen ihre Beredtheit auf, als sei sie nicht eigentlich statthaft, nicht hinnehmbar, ganz und gar nicht erträglich, die ungemeine Verschwiegenheit dieser Bilder. Als müsste die kolossale Leerstelle ausgestopft werden, die sich immer wieder um sie bildet. Denn es ist ja nicht so, dass diese Bilder von der Welt erzählten, dass sie irgendetwas Wichtiges zu verkünden hätten, dass es ihnen um Bedeutung und Bedeutendes ginge, dass sie sich gar anmassten, die Welt verdoppeln, sie repräsentieren zu können. Vor Vija Celmins Bildern hat man eher den Eindruck, jählings in eine Weltlücke geraten zu sein, in einen Hohlraum oder Stillraum, wo gerade das nicht ist, was zu sehen ist, wo die Dinge wie Erscheinungen da sind – aufgehoben in einem Fluidum der Atemlosigkeit und der Pulsschlaglosigkeit. Man könnte sagen, das Bild ist wie die Negativform des Dings, eine seltsam luftleere Aura, hochgeladen, flirrend von Spannung.
Früher, als es noch kein Kameraloch im Mobiltelefon gab, und Fotos mit chemischer Geburtshilfe auf die Bilderwelt kamen, da war es in der Dunkelkammer so, als stiegen die Körperschemen aus dem schwarzen Papier, zitterten wie Nixen im Entwicklerbad. Nur schnell fixieren, bevor sie wieder verschwinden. Schnell geht nichts in diesem Werk. Aber vom Fixieren hat das Malen schon etwas. Stunden, Tage, Wochen, Monate sitzt Vija Celmins to fix the image in memory. Stunden, Tage, Wochen, Monate sitzt Vija Celmins und fixiert, verankert ihre Bilder im Gedächtnis. Zentimeter um Zentimeter. Mit grosser Geste, genialischem Wurf ist da gar nichts getan. Der Umständelosigkeit, mit der die Zeitkunst Bild an Bild reiht, hat die Malerin von Anfang an misstraut. Malen ist umständlich. Anders ist Malen nicht zu haben. Malen ist Geduldsarbeit. Aber nicht nur Geduldsarbeit, wir werden sehen. Malen ist vor allem Feinarbeit. Feinste Verteilung und Gewichtung, bis der Gegenstand in seine Weltlücke passt. Vielleicht kann man sich den Gegenstand und den Leerraum, den er markiert, so vorstellen wie zwei Massen im euklidischen Raum, die im indifferenten Gleichgewicht zueinander stehen. Dieses ihr indifferentes Gleichgewicht ist ja nicht etwas, das zur einen oder anderen Masse wie ein Prädikat gehörte. Es ist nichts als Wirkung, schiere Wirksamkeit, unsichtbar zwischen und um die Massen. Und was, wenn man zum Gegenstand und zum Leerraum, zum indifferenten Gleichgewicht Stillleben sagen würde? Stillleben ist nicht einfach eine bildmotivische Gattung. Stillleben ist immer auch Utopie, nichts weniger als ein Vorschein der Welt, die in ihren Dingen zur Stille gekommen ist.
«Malerei», rät die Malerin zur Vorsicht, «Malerei ist etwas sehr Genaues und Umfassendes, doch sie ist es nicht in dem Sinn, dass erschöpfende Aussagen über sie möglich wären.» Also gut, was lässt sich sagen ohne Anspruch auf Letztgültigkeit? Vija Celmins hat keine ungegenständlichen und kein figürlichen Bilder gemalt, das zum Beispiel lässt sich sagen. Und das war und ist vor dem Hintergrund der Zeitstile in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zumal vor dem Hintergrund der Kunstentwicklung in den USA, eine klare Entscheidung für den eigenen Weg. Das hat an diesem Werk schon immer auffallen können, diese rigide Unangepasstheit, der gänzlich unkämpferisch verteidigte Abstand zu den wechselnden Rollenspielen des Kunstbetriebs. Was gerade nicht heisst, dass die Bilder wie aus der Zeit gefallen wären. Nicht zuletzt unter Kolleginnen und Kollegen ihrer Generation geniesst Vija Celmins eine Wertschätzung, die so nur wenigen zuteil wird. Eine Wertschätzung, die übrigens an der Ostküste geradeso gilt wie in Kalifornien.
Keine ungegenständlichen und kein figürlichen Bilder: Einen Arm gibt es allerdings schon, und eine berühmte rechte Hand, die eine Pistole hält und sie eben abdrückt. Und dann gibt es doch diese Katastrophenszenen aus den sechziger Jahren, den «burning man», der vom brennenden Wagen wegzukommen versucht. Aber es träfe den Bildsinn kaum, wenn man zur schrecklichen Fackel Figur sagen würde. Sie ist wie ein Schatten, der dem formlosen Inferno ein wenig Profil gibt. Und wenn auf einem anderen Bild ein «Truck» in der Dunkelheit auf uns zukommt, dann blenden uns seine Scheinwerfer, und niemand ist hinter dem Lenkrad zu erkennen. Dass die Welt ohne den Menschen, der sie erklärt, gut denkbar ist, will diese Malerei nicht unbedingt sagen. Aber auch nicht, dass die Welt stumm wäre, ohne dass ihr der Mensch Stimme und Erklärung gäbe. Was sie sagen will, ist vielleicht dies: dass die Welt von sich erzählt, auch ohne dass ihr der Mensch Stimme und Erklärung gibt.
Weshalb die Dinge, die Vija Celmins malt, sich auch nicht zu einem Weltbild fügen. Aus einem Paar Tischleuchten, aus leichtem Wellengekräusel, aus einem wundersam gesponnenen Spinnennetz, aus einem Ausschnitt Wüstenboden und einem Ausschnitt Sternenhimmel wird kein Report und kein Roman. Was die Malerin malt, taugt als Parameter weder für Physik noch für Metaphysik. Es wäre ein bisschen verwegen, wenn man den Kindern vor den Bildern der Vija Celmins bedeuten wollte, schaut, so sieht die Welt aus, oder gar den Zeigefinger erhöbe, schaut, schaut, so sollte sie aussehen. Andererseits liesse sich auch nicht behaupten, was die Malerin malt, hätte mit der Welt nichts zu tun, wäre nicht von dieser Welt. Nichts falscher, als in den Bildgegenständen nur beliebige Malanlässe vermuten zu wollen, als brauche die Malerin halt irgendetwas, um wieder einmal ihre Virtuosität im Umgang mit Ölfarbe auf Leinwand oder Graphit auf acrylgrundiertem Papier unter Beweis stellen zu können.
Nein, die Dinge sind ja doch mit Bedacht gewählt, ausgewählt. Und immer ist es, als habe sie die Malerin aus dem Off gerufen, wo sie womöglich lange auf ihr Stichwort gewartet hätten. Und immer treten sie einzeln aus dem Bühnenhintergrund nach vorne. Jetzt haben sie ihren Auftritt. Die Heizplatte ist angeschaltet, der Arm mit der Pistole hat gerade abgedrückt, der Elektroofen verstrahlt noch Licht und Wärme, das Spinnennetz, meint man, zittere ein wenig, der Wasserspiegel zerbricht gerade in tausend Wellenscherben, und vollends der Sternenhimmel, was ist er anders als ein Schaubild unvorstellbarer Bewegungen.
Nicht dass Vija Celmins Bewegung malte, gar die Illusion von Bewegung. Es ist anders. Was an Bewegung, oder sagen wir besser: an Energien in den Dingen gespeichert ist, ist etwas Unverfügbares. Es ist potentielle Energie ohne Möglichkeit ihrer Ausbeutung, ohne Möglichkeit, sie in kinetische umzuwandeln. Man könnte es so sagen: Was die Dinge wie energiegespeichert aussehen lässt, ist eine Art Schauen. Was die Dinge wie energiegespeichert aussehen lässt, macht, dass sie zurückschauen. Seltsam, geheimnisvoll, intensiv. Ohne dass man ihnen ausweichen könnte. Und in diesem seltsam geheimnisvoll intensiven Zurückschauen der Gegenstände liegt auch der Unterschied zu Jasper Johns etwa. Beide Künstler haben ja Erfahrungen mit dem gleichen Alltagsgegenstand. Jasper Johns hat zwei Dosen «Ballantine Ale» in Bronze gegossen. Vija Celmins hat eine Dose «Sparkling Ginger Ale» gemalt. Es ist eben nicht nur ein Markenunterschied. Die Heroisierung und Nobilitierung des Banalsujets ist von gänzlich anderer Art als die vereinsamte Büchse, die in ihrem überwölbenden Grauraum mit stupender Eindringlichkeit ihren seltsam geheimnisvoll intensiven Monolog aufsagt.
Und wenn Vija Celmins zwei Zeitungsausrisse zeichnet, das Foto vom atombombenverseuchten Bikini-Atoll und das Foto vom atombombenzerstörten Hiroshima, dann malt sie viel mehr als nur ein stummes politisches Statement. Das malt sie auch. Nichts falscher, als das verkennen zu wollen: Das Werk hat seine unversteckten und seine unübersehbaren politischen Implikationen. Und diese Zeichnungen sind geradeso politisch gemeint, wie das Bild vom Arm, das Bild von der Hand, die die Pistole hält, das Bild vom Zeigefinger, der gerade abgedrückt hat. Aber zugleich – und das ist nicht weniger politisch – malt die Malerin auch ihr eigenes Zusehenmüssen, malt sie ihr Erstaunen, dass ihr die beiden Zeitungsausrisse nicht mehr aus dem Sinn gehen, malt sie, wie sie nicht loskommt von ihnen, malt, wie die Zeitungsausrisse gleichsam zurückschauen mit seltsamer, geheimnisvoller, bezwingender Intensität.
Wahrnehmungsbeschreibungen sind immer Vereinfachungen komplexer Vorgänge. Subjekt, Prädikat, Objekt. So soll es sein. So aber ist es nie. Nie sind Objektbeziehungen wirklich abgeschlossen. Sehen beginnt mitten im Vorwissen und mündet in unwissbaren Sehabläufen. Gesehene Bilder wirken weiter, werden vergessen, verdrängt, erinnert, kreuzen sich mit Bildern aus dem Gedächtnis, bilden hybride Arten, füllen den Bilderspeicher, über den wir keine Macht haben. Was die Erkenntnistheorie gerne als Verhältnis fassen möchte, zerfasert in Wahrheit in wuchernden Assoziationen, in immer neuen Bündnisschliessungen mit den Dingen, in nahen und fernen Abständen zu ihnen. Sehen heisst, den richtigen Abstand wählen, den falschen meiden. Wenn man den Dingen zu nahe kommt, können sie schwer erträglich werden, und der Blick möchte ausweichen. Wer zu weit weg ist, opfert das definierende Detail an die pauschale Anmutung. Das ist das klassische Erkenntnissetting, das den Erkenntniserfolg von der Abstandsleistung des Erkenntnissubjekts abhängig macht.
Dagegen ist Schauen reine potentielle Energie. Schauen lässt sich nicht ausbeuten. Aus Schauen lässt sich nichts gewinnen. Schauen ist nicht Erkennen. Schauen ist vor dem Erkennen. Schauen ist ein Modus des Begegnens. Und anders als beim Erkennen, das nur bei richtiger Brennweite funktioniert und diesseits und jenseits der richtigen Brennweite sich in lauter Erkenntnistrübung zersetzt, meint Schauen beides, subtile Annäherung und behutsame Abstandswahrung. Es ist ein Prozess mit unabsehbarem Verlauf. So, verstrickt in einen Prozess mit unabsehbarem Verlauf, begegnet die Malerin den Dingen, und so begegnen die Dinge ihr. Man hat zuweilen das Werk für den sogenannten Hyperrealismus reklamieren wollen. Eine gänzlich untaugliche Kategorie. Abgesehen davon, dass sie sich längst als kunstbetriebliche Behauptung vernutzt hat, bietet sie keine Passform für diese Bilder. Wenn der Begriff überhaupt ernst genommen werden will, dann meint er ein grelles Bescheidwissen über die Gegenstände. Hyperrealistisch wären Weisen des Verrats an der bemächtigten Gegenstandswelt. Auf dem hyperrealistischen Bild wird die Gegenstandswelt wie ein Beweisstück vorgeführt. Nie führt Vija Celmins etwas vor.
«Keine Komposition – keine Gestik – keine Kunstfarbe – keine Verzerrung – keine sichtbare Angst oder Anstrengung – kein Ich – (ausdruckslose Bilder)»: So hat die Malerin in den frühen sechziger Jahren ihr malerisches Credo skizziert. James Lingwood hat das als «Litanei der Selbstverleugnung» übersetzt. «Litanei der Selbstverleugnung»? Ich denke, es sind Bausteine für eine Hermeneutik des Schauens. Schauen, Zuschauen ist Basis-Haltung in diesem Werk. Zuschauen ist entschiedener Widerspruch zu Gestaltung und Animation. Nichts wird hergestellt, erzeugt, erzwungen, bewegt, beschleunigt, erfunden oder simuliert. All die Modi ästhetischer Praxis laufen im Zuschauen zusammen. Malen ist hier viel mehr noch Begleitmedium als Dokumentationsmedium. Malen, haben wir gesagt, ist eine Erfahrung in der Zeit. Und das Bild vom ausgemergelten Wüstenboden, das mit unendlicher Geduld jeden Zentimeter Pflanzenlosigkeit, Naturlosigkeit, also Lebenslosigkeit nachzeichnet, ist geradeso wie das Bild von der verkraterten Mondoberfläche, das mit unendlicher Geduld jeden Zentimeter Meteoritenbeschuss nachzeichnet, ein Bild, über dem Mal-Zeit vergangen ist, das meint: Zeit des Malens, ein Bild, hinter dem Lebenszeit geblieben ist, das sich mit unwiederbringlicher, mit unverfügbarer Geschichte aufgefüllt hat. Wenn es in Tat und Wahrheit so wäre, wenn das Geheimnis dieser Malerei in ihrem epistemologischen Charakter läge, wie wir gehört haben, wenn aller Zauber schon damit begründet wäre, dass diese Malerei mit erkenntniskritischer Tendenz dabei helfen würde, die materielle Welt neu zu konstruieren, dann wären Geheimnis und Zauber bald verbraucht. Vija Celmins Malerei handelt mehr noch von Erfahrungen, die man malend sammelt. Erfahrungen, die alle irgendwo eingeschrieben sind in ihren Bildern.
Aller Impuls geht vom verwunderten, vielleicht erschrockenen Stehenbleibenmüssen des Auges, vom nicht Loskommenkönnen des Sehens aus. Und je dinglicher das Werk erscheint, je verführerischer, suggestiver seine Gegenstände erscheinen, desto magischer wirkt auch dieses Schauen, desto magischer wirkt die Ungegenständlichkeit des Sehens, aus der die Gegenstände alle stammen.
Mal angenommen, es wäre wie damals, als wir zum ersten Mal die Augen aufzwängten. Und es wäre so, dass wir sie nicht gleich wieder schreiend zukniffen, weil uns alles viel zu hell und zu blendend und viel zu sehr zum Schreien vorkäme. Mal angenommen, so wäre es, und das Erste, was wir so sähen, wäre – ein Sternenbild. Eines dieses überwältigenden Sternenbilder der Vija Celmins. Ein Sternenbild, von dem wir nichts wüssten, seinen Namen nicht kennten, seine Bedeutung und Bestimmung nicht, nicht seinen astronomischen Gebrauchswert und nicht seine wissenschaftliche Nutzanwendung und auch nicht seine Schönheit oder seine Hässlichkeit. Was wäre dann?
Dann – wären wir geprägt, ein für alle Mal. Bildergeprägt. Sternenbildgeprägt. Also «gebildet» im eigentlichen Sinne des Wortes. Dann müsste sich alles, was an Bildern von Welt, an Weltbildern und an Ausserweltbildern noch kommen mag, an diesem ersten Bildeindruck messen lassen. Es wäre unser eigentliches Vorbild, das Referenzbild für alle zukünftigen Bilder. Unlöschbare Frühspuren im weichen Schädelraum. Der Basiseintrag im limbischen Speicher. Und nie kämen wir auf die Idee, dass unser Sternenbild ein Sternenabbild sein könnte.
Mal angenommen, wir könnten uns tatsächlich daran erinnern, wie es damals war, wir kämen noch heute nicht aus dem Staunen heraus. Reines Sehen. Sehen vor der Besetzung des Sehens durch die Erscheinungen. Sehen vor dem Triumph der Gegenstände und Bedeutungen. Sehen und sich nicht darum kümmern müssen, was es zu sehen gibt. Eine unglaubliche, gewaltige, völlig unwahrscheinliche Erfahrung. Sehen und dabei nichts sehen. Leeres Sehen. Was ist aus all dem wunderbaren Sehen geworden? Alles gelöscht, alles vertan in der zeichenhaften Welt?
Vielleicht ist Kunst nur ein anderes Wort für die Wiederaufführung des Staunens nach dem Verlust aller Staunegründe. Manchmal meinen wir ja – beim Blick in eine pathetische Landschaft etwa – ein wenig vom Erlebnis des Schauens, des unendlichen Sehens zu spüren, das so schnell unter dem Lebensgesetz der Dinge und ihrer Ordnungen endlich geworden ist. Am Meer etwa oder besser leicht über dem Meer ist es nicht falsch, wenn wir sagen, wir schauten hier in die Unendlichkeit, weil es in der Tat keine endlichen Gegenstände gibt, die uns den Blick verstellen.
Solche Wasser gibt es in diesem Werk. Wasserbilder, die uns unendlich vorkommen müssten, wenn es nicht die Gnade des Formats, nicht den Trost ihrer willentlichen Begrenzung gäbe. Wasserbilder, in denen das Schauen zerfliessen müsste, wenn nicht das Drama des in tausend Wellenscherben zerbrechenden Wasserspiegels wäre. Schauen braucht den Widerstand des Details. Und wenn alle Komposition getilgt und alle Gestik gelöscht ist, wenn keine Kunstfarbe mehr ist, keine Verzerrung und nirgendwo sichtbare Angst oder Anstrengung, wenn das Ich endlich zur Metapher der Ausdruckslosigkeit geworden ist, dann bleibt immer noch das unscheinbare Detail, eine Wellenscherbe vom zerbrochenen Wasserspiegel, ein Lichtpunkt im infiniten Schwarz der Galaxie, ein rotes Auge, mit dem der Ventilator aus seinem Bild in die Welt schaut.
Welt, das sind die Bilder, die wir uns von der Welt machen. Soll man bei Vija Celmins Bildern sagen «gedämpfte Welt»? Ein wenig entrückt sieht diese Welt ja schon aus, bei aller Ventilatornähe doch irgendwie fern. Die Dinge erscheinen wie abwesend, nicht ganz hier zu sein, von weit hergeholt, aus der Erinnerung belichtet, festgehalten auf einem Film, der alle Töne ein wenig nach Moll hin moduliert. Das schafft eine eigentümliche Stimmung. Aber die «gedämpfte Welt» ist kein romantisches Paradigma, kein Sehnsuchtsmotiv, indiziert nicht Traum oder Halbwachheit. Alles ist hier überaus bewusst. Keine Zufälle, nichts was einfach geriete, was wie von selbst so würde.
Malerei kann nicht mehr so tun, als ginge es noch immer darum, die Dinge einfach umzusetzen, sie von ihrem Dingsein in den Zustand des Gemaltseins zu heben. Sie weiss vielmehr, dass zwischen dem Dingsein und dem Gemaltsein immer schon das Bildsein ist, dass die Dinge nicht anders erfahrbar sind denn als Bilder. Bilder aber existieren nicht allein in ihrer stofflich begrenzten Form. Bilder verweisen aufeinander. Sie sind immer zugleich Bilder von Bildern, existieren in der dynamischen Form der Referenz. Ihre Ränder verfliessen. Was zwischen den Rändern ist, bleibt vage, die Beziehung ist Unschärferelation.
Es ist ja nicht verboten zu fragen, was die verschiedenen Werkteile zur Kette schmiedet. Diese Haushaltsgeräte aus der Atelierumgebung, die Flugzeugabstürze und Explosionen auf See, die gleichsam wissenschaftlichen Nachzeichnungen von der Mondoberfläche und der Blick ins strahlende Herz des Sternbilds Cassiopeia: Vergebliche Mühe, wer da nach Grammatik sucht. Es ist auch nicht Draufschauen und Aufschauen, was die Verbindung schafft. In der Regel ist ja doch immer noch ein Bild dazwischen, eine Fotografie, eine Zeichnung, eine Abbildung aus einem Magazin oder einer Zeitung. Nein, es geht nicht um Kopfbewegungen. Schauen kennt keine Richtung.
Vielleicht sollte man es so sagen: Die Bilder verbindet nichts, sie halten sich an ihren offenen Rändern. Ist das romantisch? Vija Celmins hat die Antwort. «Nun», sagt sie, «der Impuls, ein Kunstwerk zu schaffen, ist irgendwie romantisch. Ich glaube nicht, dass es da einen echten Fortschritt gegeben hat, oder doch? Ich glaube, es geht um Entdeckungen durch Arbeit und Momente der Begegnung, die sich willentlich oder intuitiv ergeben.»
Fortschritt ist gerichtete Bewegung im Raum. Echter Fortschritt ist, wenn wieder ein Stück Welt erschlossen ist. Malerei ist, wenn Zeit vergangen ist. Wie soll es Fortschritt geben, wenn die Malerei dazu angetan ist, uns die Zeit anzuhalten?